PROLOG



DIE DREI WELTEN   "ERSTE WAHRNEHMUNG"

 

Die reine Unschuld, in diesem Kind, doch es darf nicht leben.

„Töte das Kind!“, schrie der Marshall mit seiner tiefen Stimme aus Leibeskräften in meine Richtung. Der Gang am Ende des Saals war so beengt, dass er Probleme hatte, uns zu erreichen. Die Trümmer der massiven Steinwände erschwerten ihm das Vorankommen zusätzlich. „Es muss geschehen, es ist unvermeidlich!“, schrie er wütend. Die tiefblauen Augen des kleinen Jungen fixierten mich voller Angst. Er zitterte und drückte sich voller Angst in die letzte Ecke des großen Saales. „Tu es, tu es endlich“, gab der Marshall ungeduldig von sich. Er bahnte sich langsam aber sicher einen Weg zu uns. Das laute Knallen, der Gefechtslärm des Kampfes, alles drang nur noch als eine gedämpfte monotone Melodie zu mir hindurch.
Es hätte das Ende sein können, es hätte der Anfang sein können, zumindest ein Weg.

Nach wochenlangen Gefechten waren Menschen und Riesen gemeinsam in den dunklen Palast vorgedrungen. An den Ort, an dem das Böse das unschuldige Herz eines Kindes für seine dunklen Mächte missbrauchte. Ein Großteil der Welt der Riesen war bereits in der Dunkelheit gefangen, der Tod war überall. Riesen und Menschen waren zu tausenden im großen Krieg gefallen.

All die Macht, all das Elend, die Qual und der Untergang der Welten schlugen nun in der kleinen Brust dieses Kindes.  Ich spürte die Macht. Die Kraft war überwältigend und der kleine Junge so unschuldig. Er kauerte am Boden und sein ganzer Körper war ein einziges Schütteln. Tränen liefen ihm von den Wangen. Er hatte Todesangst. Ich war wie paralysiert. Der Marshall hatte sich bereits den schmalen Gang zum Altar des mächtigen Palastes freigekämpft und stand nun direkt vor mir. Mit all seiner ihm noch verbliebenen Kraft packte er mich am Kragen und zog mich zu sich. Das Blut seiner getöteten und unzählig verwundeten Feinde lief in Rinnsalen von seiner Rüstung. Der Geruch von Eisen und modriger Feuchtigkeit stieg mir in die Nase. „Versteh, versteh doch!“, schrie er mir mit wutverzerrtem Gesicht und einer Härte entgegen, die keinen Widerspruch duldete. „Wir müssen das Kind töten, er ist nicht das, was du siehst!“ Ich war wie versteinert. Das Atmen fiel mir schwer, die Dunkelheit war allgegenwärtig an diesem schrecklichen Ort. Ruckartig ließ mich der Marshall los und schnellte nach vorne. Er holte in einer fließenden Bewegung mit dem mächtigen Streitkolben zum Schlag aus. Wie in Zeitlupe verfolgte ich, wie der Streitkolben genau auf den Kopf des Jungen zielte. Das Blut in meinem Kopf begann zu rauschen und in diesem Moment überkam mich die tiefe Abscheu für den Marshall wie eine dunkle Welle voller Wut. Da erklang plötzlich ein dumpfer, tiefer Schrei. Der Marshall sank langsam auf die Knie. Mein Schwert, das ich ihm in den Rücken gerammt hatte, ragte mehrere Zentimeter aus seinem Bauch. Der Heerführer der Riesen stöhnte leise vor Schmerz. Mit einem ungläubigen Blick in den Augen versuchte er nach mir zu greifen. Ich wich nach hinten aus. Das Blut lief ihm in einem Schwall aus dem Mund, als er mit gurgelnder Stimme prophezeite: „MENSCHEN, Menschen zu schwach und zu leicht zu verführen! Unsere WELTEN werden in Dunkelheit versinken!“

Ich ging auf den Jungen zu, nahm ihn an der Hand und wir verließen den Saal. Wir bahnten uns einen Weg durch einen schmalen Gang in Richtung des großen Platzes. Noch kurz hallten die verzweifelten Schreie des Marshall durch den dunklen Saal, bevor seine raue Stimme endgültig verstummte. An den tobenden Gefechten und kämpfenden Riesen vorbei, die keine Notiz von uns nahmen, ließen wir den schwarzen Palast hinter uns.

Seitdem sind viele hundert Jahre vergangen, die vielen Leichen zu Staub zerfallen, der Palast in Vergessenheit geraten, die Mauern, geschunden von Wetter und den Jahrhunderten. Es folgten harte, kalte  Winter und strahlende, heiße Sommer. Viele Leben erblickten das Licht der Welt und ebenso viele erloschen wieder.